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Auf dieser Seite ist eine Auswahl an Predigten von Prädikant Thomas Wöhl.
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1. Sonntag nach Epiphanias (13. Januar. 2013) – Joh 1, 29-34
9.30 Uhr Reddehausen, 10.45 Uhr Schönstadt
Johannes 1, 29-34
Liebe Schwestern und Brüder,
typisch Johannes ... in diesem Evangelium ticken die Uhren anders als in den 3 ersten Evangelien ... typisch Johannes: da ist eine kurze, knappe Handlung, an die sich dann eine lange Rede anschließt, die in der Regel noch mehr Fragen nach sich zieht, als dass sie Antworten gäbe.
Aber ... auch das ist „typisch Johannes“ ... die Rede zieht mich in ihren Bann, macht mich neugierig, ihr auf den Grund zu gehen ... gerade weil sie sich nicht so einfach von jetzt auf gleich erschließt ... ich lade Sie ein, diesen Weg heute Morgen mit mir mitzugehen.
Mein erster Eindruck: die Szene wirkt merkwürdig, ... unrealistisch, ... fast absurd: Jesus kommt des Wegs; Johannes kennt ihn gar nicht, wie er selber sagt, aber dann sagt er ganz außergewöhnliche Dinge über ihn ... es ist merkwürdig ... irgendwie ist mir das alles zu glatt ... So wie hier, hat sich der Täufer sonst nicht eingefügt.
Johannes der Täufer war eine faszinierende Gestalt ... er war konsequent, machte keine Kompromisse ... er ging in die Wüste, ernährte sich von einfacher Nahrung und sagte nur das, wovon er überzeugt war ... beeindruckend: mit welcher Deutlichkeit er geredet hat - ein Echo seiner Wucht klingt immer noch bei Matthäus und Lukas durch – „Ihr Schlangenbrut, wer hat euch gewiss gemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen würdet?“ – Johannes fürchtet sich nicht, auch nicht vor Herodes, dem Fürsten, dem er sagt: Du treibst Ehebruch mit der Frau deines Bruders ... das ist bemerkenswert. Diesen Mut wünschen wir uns auch selbst ... und unseren Politiker.
Und der Täufer des Johannesevangeliums? ... was für ein braver Mann ... treu und pflichtbewusst ... einer, der nichts für sich selbst will ... einer, der sich völlig zurücknimmt ... nichts wird erzählt von seinem wilden Zorn ... nichts davon, was er mit der Taufe, die er erfunden hat, ausdrücken will ... Dieser Mann ist nichts aus sich selbst heraus ... er dient ... er weist auf den hin, der da kommt ... Selbst die Taufe Jesu wird hier nur im Vorübergehen gestreift.
Das ist nicht mehr Johannes der Täufer ... das ist eigentlich nur noch eine blutleere Gestalt.
Eigenartig, nicht wahr? – Auch die anderen Evangelisten sind viel mehr an Jesus als an Johannes interessiert ... Aber sie machen Johannes nicht ganz so klein ... Sie erzählen zumindest noch die Geschichte von der Taufe Jesu ... und sie erzählen sie als eigenständige Geschichte.
Auf der anderen Seite bekommen wir einen Einblick in die Werkstatt des Evangeliums-schreibers: Das Johannesevangelium hebt Jesus weit heraus ... Er überragt alle ... Selbst eine so herausragende Figur, wie der Täufer, hat hier nur noch dienende Funktion.
„Zeugen“ nennt sie der Evangelist: Johannes den Täufer, Nathanael, den Jesus unter dem Feigenbaum sieht und der ihm dann nachfolgt ... und noch einige andere.
Erstaunlich, wie souverän der Evangelist Johannes über die Taufe Jesu durch den anderen Johannes hinweggeht ... Er erwähnt sie nur noch im Rückblick, allerdings mit der nicht ganz unbedeutenden Offenbarung, dass der, der da getauft wurde, Gottes Sohn ist ... und das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt.
Aber ganz so weit bin ich noch nicht ... und womöglich geht es Ihnen, die sich heute hier in der Kirche zum Gottesdienst versammelt haben, ganz ähnlich: Vor 14 Tagen haben wir Weihnachten gefeiert ... gut, der Glanz von Weihnachten ist schon wieder verblasst, aber vielleicht brauchen wir noch ein klein wenig Zeit ... auf das Kreuz werden wir schon noch blicken ... bald schon werden wir das tun ... vorher will ich noch einmal kurz auf den blicken, der hier das „Lamm Gottes“ genannt wird ... dabei nehmen wir seine Taufe in den Blick.
Wir sehen in die Werkstatt des Evangelisten ... Vorhin habe ich gesagt: Bei Johannes überragt Jesus sie alle ... und noch etwas wird deutlich: Es gibt bei Johannes keine Entwicklung ... es gibt nur die eine, wie in Stein gemeißelte Wahrheit.
Im Grunde ist das nicht verwunderlich. Wenn ein Evangelium mit dem Satz beginnt: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort“, ... und wenn es mit diesem Satz Jesus von Nazareth meint, dann ist mit diesen Worten eigentlich schon alles gesagt ... alles, was dann noch gesagt und geschrieben wird, ist Schmuck, Beiwerk ... aber keine Erweiterung ... Jesus ist die sich offenbarende Seite Gottes; wer ihn sieht, der sieht Gott selbst ... deshalb braucht das Johannesevangelium auch keine Geschichte zu erzählen, der Satz: „Jesus ist das Wort“ wird nur endlos variiert.
Aber das Leben ist nicht so ... Leben entwickelt sich ... beim Glauben ist es ähnlich ... Glauben, den wir in Stein meißeln können, gibt es nicht. – Selbst wenn es ihn gäbe; was würde er austragen? – wie auch immer: bei den anderen Evangelisten wird die Geschichte anders erzählt: Da kommt Jesus zu Johannes, lässt sich taufen, und dann heißt es: „Und er sah den Geist wie eine Taube auf ihn herabkommen.“ – Es ist nicht ganz klar, wer mit diesem „Er“ eigentlich gemeint ist, ob es der Täufer ist oder ein anderer, aber ich vermute: Mit diesem Satz ist Jesus selbst gemeint. Er spürt in diesem Moment seine Berufung. – Alle Evangelisten - mit Ausnahme von Johannes - erzählen dann, dass Jesus in die Wüste geht und vom Teufel versucht wird ... Jesus muss verstehen, was seine Berufung bedeutet ... Dafür muss einer in die Stille gehen ... mit den eigenen Dämonen ringen ... sich und seine Situation klären ... dann kann er seinen Weg gehen.
Jesus geht einen anderen Weg als Johannes der Täufer ... seine Botschaft beginnt, genau wie die des Täufers, mit dem Ruf zur Umkehr ... Aber anders als der Täufer malt Jesus den Menschen nicht das drohende Gericht Gottes vor Augen ... Er droht nicht mit dem heiligen Zorn, ... stattdessen wirbt er mit der Liebe ... er wirbt um die Menschen, traut ihnen zu, dass sie sich ändern ... Er sagt nicht: Ihr müsst euch ändern, damit ihr Gottes Liebe überhaupt erst einmal verdient ... Er sagt: Gott liebt euch, deshalb habt ihr die Chance, das zu ändern, was an eurem Leben nicht gut ist. –
Für den Evangelisten Johannes ist alles klar und eindeutig. Schon in dieser frühen Geschichte ist die Wahrheit Jesu wie unter einem Brennglas gebündelt: ... Er ist das Lamm Gottes ... Er tauft mit dem Heiligen Geist ... Er ist der Offenbarer. – Bei Johannes gibt es keine allmähliche Erkenntnis Jesu, wie sie in den anderen Evangelien immer wieder einmal geschildert wird: - im Bekenntnis des Petrus, wo Jesus die Jünger fragt, was die Leute von ihm sagen und Petrus antwortet: „Du bist der Christus, der Sohn des allmächtigen Gottes“; - in der Verklärungsszene auf dem Berg Tabor, bei der nur ein ausgewählter Kreis von Jüngern Zeuge wird ... Bei Johannes gibt es kein fragen und allmähliches erkennen; alles ist entweder sofort da oder eben nicht; ... so ist die Schroffheit, mit der zwischen den Glaubenden und der „Welt“ unterschieden wird, verständlich.
„Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt“ ... Jesus ist das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt. Wer sich ein wenig mit der Bibel auskennt, wird an das Passahlamm denken, das für den Auszug aus Ägypten steht. Mit seinem Blut wurden die Türpfosten der israelitischen Häuser bestrichen, damit der Todesengel an diesen Häusern vorübergehe ... Ein zwiespältiges Zeichen, das für Tod ... wie für Leben stehen kann ... aber natürlich überwiegt aus der jüdischen Perspektive das Zeichen des Lebens: Wir werden verschont; für uns gibt es neue Hoffnung.
Es ist ein merkwürdiges Bild, das hier gezeichnet wird ... Auf der einen Seite ist Jesus das Lamm, das geopfert wird ... Ein Lamm kann sich nicht wehren. Es ist völlig passiv; ob es lebt oder stirbt hängt nicht von ihm ab ... auf der anderen Seite ist Jesus Gottes Sohn. Er ist der, der von oben kommt. Er ist der erhöhte Herr. „Erhöhung“; vielleicht ist das das Wort, das am ehesten auf den Jesus zutrifft, den Johannes zeichnet: Auf der einen Seite ist er über allen. Mehr als ein Mensch ... Auf der anderen Seite geht er den Weg zum Sklaventod am Kreuz. Und genau diesen Tod wird der Evangelist Jesu „Erhöhung“ nennen. Das Kreuz ist die Rückkehr zum Vater, und zugleich erlöst es die, die an ihn glauben.
Das Wort vom Lamm zeigt auch, dass das ganze Elend nicht nur unser Elend ist ... die Gewalt, mit der Menschen aufeinander losgehen, trifft auch Gott: Die vergewaltigten Frauen in Indien, die verschleppten Kinder in China, die Kriegsopfer in Syrien schmerzen Gott ... Wir kennen zwar keine Opferlämmer mehr, aber umso mehr Gewaltopfer und jede Menge Schulden.
Matthias Grünewald hat es im Bild des Isenheimer Altars in Colmar gezeigt; das er vor 500 Jahren für ein Armenspital gemalt hat: In der Mitte des Bildes hängt Jesus am Kreuz ... Es ist ein Bild, das dem Betrachter unter die Haut geht ... Die Finger, die aussehen wie Knochen, der abgemagerte Leib, der riesige Nagel durch den Fuß, die Dornen um den Kopf, der sich zum Sterben senkt. Links davon die weinende Mutter und der Jünger, der sie stützt, beide im Schmerz versunken ... Und rechts der Täufer als aufrechte Gestalt mit dem überlangen Zeigefinger und dem Lamm zu seinen Füßen. Er weist auf den Sterbenden hin. Und neben ihm in Lateinisch der Satz: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“
Als Matthias Grünewald dieses Bild gemalt hat, da hat er zwei sehr unterschiedliche Themen miteinander vereinigt: - den Schmerzensmann ... mit ihm konnten sich die Kranken des Hospitals identifizieren. Dieser Mann am Kreuz erlitt ähnliche Qualen wie sie selbst ... er glich ihnen ... - auf der anderen Seite sahen sie einen, der auf diesen Schmerzensmann hinwies ... Wahrscheinlich hat Grünewald beim Malen seines Bildes nicht nur die Jesajastelle vom leidenden Gottesknecht vor sich gehabt, sondern auch den Text über die Begegnung zwischen Johannes dem Täufer und Jesus ... In diesem Bild ist nicht nur der Schmerz der Kreuzigung ... auch die Erhöhung, die in der Auferstehung sichtbar wird ... der Täufer weist mit seinem überlangen Zeigefinger auf den Gekreuzigten und sagt: in ihm ist Gott zu finden. Ihm könnt ihr eurer Leid und euren Schmerz aufladen ... durch ihn seid ihr nicht verlassen ... durch ihn fällt ein Glanz von oben auf euer Leben.
Hiermit weist die Geschichte schon über den Tod Jesu hinaus in die Zeit seiner Auferstehung ... und wir erfahren auch etwas über unsere Taufe: Wer durch die Taufe Christ wird, wird Gottes Kind, Sohn oder Tochter und wird mit dem Geist Gottes getauft ... Die Taufe ist eine Berufung, weil sie von Anfang an eine Berufung war ... Wer von Gottes Geist erfüllt ist, ist Gottes Sohn, ist Gottes Tochter.
Das ist gemeint, mit dem Pauluswort, das uns in dieser Woche begleitet: „Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ – Amen.
EG 409, 1-4.8 „Gott liebt diese Welt“
Heilig Abend (24. Dezember 2012) – Johannes 7, 28-29
17.30 Uhr Speckswinkel
Liebe Schwestern und Brüder,
„alle Jahre wieder, kommt das Christuskind, auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind“ ... Alle Jahre wieder, fragen Journalisten, was uns denn am Christfest, lieb und teuer ist ... Alle Jahre wieder: In den Zeitungen, im Radio, im Fernsehen. Die Antworten sind unterschiedlich ... sie hängen sehr davon ab, wer gefragt wird ... Eine Schülerin wird vielleicht antworten: Die Ferien. - Ein Geschäftsmann wird sagen: Die guten Umsätze, das gute Geschäft. - Ein Kind wird sagen: Die Geschenke.
Weihnachten ist zu einem Fest des Schenkens geworden. Wochenlang sind wir beschäftigt, um etwas zu finden oder herzustellen, womit wir anderen eine Freude machen, und sicherlich ist es auch gut, dass Weihnachten immer wieder auch für uns zum Anlass wird, über den eigenen Umkreis hinaus zu denken: an die Not fremder Menschen, an die Not der Welt.
Mir ist aufgefallen, dass bei den meisten Gefragten nicht die Geschenke im Mittelpunkt stehen ... viele Erwachsenen antworten praktisch dasselbe: An Weihnachten ist mir die Familie am wichtigsten. Das Beisammensein in der Familie, die oft weit verstreut lebt, und an diesem Fest ihre Gemeinsamkeit feiert ... Nicht die Bescherung, sondern die Gemeinschaft ist wichtig ... Wir haben Jesu Geburtstag unmerklich umgestaltet in ein Fest der Familie, ein Fest des Kindes. – Das ist auch gut, denn Familie und Kinder geraten in unserem hektischen, ausgefüllten Leben allzu leicht an den Rand, dafür finden wir oft keine Zeit mehr, haben keine Kraft mehr.
Vor einiger Zeit habe ich einen Artikel über „Kindheit in Deutschland“ gelesen, der mich sehr bewegt hat. Da war die Rede von Wohlstandsverwahrlosung, von Elfjährigen, die ein eigenes Zimmer, einen PC, einen Fernseher, eine Play-Station haben, und auf die Frage, wann sie ihre Eltern das letzte Mal gesehen haben antworteten: „Keine Ahnung. Wenn ich nach Hause komme, schlafen die schon. Und wenn ich aufstehe, sind sie weg.“ „Die Zeit, die für Kinder [und Familie] aufgewendet wird, geht zurück. Und diese Entwicklung wird sich in den nächsten Jahrzehnten fortsetzen“, hieß es in dem Artikel. – Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir einmal im Jahr die Familie groß machen, sie in den Mittelpunkt stellen, sie feiern ... und es wäre schön, wenn wir und alle, die Weihnachten feiern, nach den Feiertagen die Kinder und die Familie nicht wieder aus den Augen verlieren.
Trotzdem, das Eigentliche an Weihnachten haben wir dann immer noch nicht ganz erfasst ... Weihnachten ist ein Fest des Schenkens, des einander Freude machen’s ... Weihnachten ist ein Fest der Familie, ein Fest der Kinder und der Erinnerung an die Kindheit ... und zuallererst ist Weihnachten das Fest, an dem wir feiern, dass Gott Mensch geworden ist, dass er uns nahe gekommen ist. Damit wir ihn kennen lernen. So heißt es im Johannesevangelium:
Johannes 7, 28-29
„Ihr kennt Gott nicht“, sagt Jesus. Ich, Jesus, ich kenne ihn, und ich mache ihn euch bekannt. An mir, an meinem Beispiel, in meinen Worten, da lernt ihr Gott kennen. – Kennen lernen, das hat auch etwas Bedrohliches an sich, etwa wenn wir sagen: „Du wirst mich noch kennen lernen!“ – Ich fürchte, an Gott kann man auch erschrecken ... Es gehört zu Gott dazu, dass Menschen erschrecken, wenn sie seine Gegenwart spüren, wenn Gott nicht mehr in der Kirche oder zwischen zwei Buchdeckeln eingesperrt ist, ... sondern da ist, und mich fragend anschaut ... schon manchen hat es aufgeschreckt, wenn er, oder wenn sie, plötzlich leise ahnen, was richtig wäre, und wie viel Unrecht in seinem Leben verankert ist.
Jesus ist nicht der „holde Knabe im lockigen Haar“ geblieben, er ist ein Mann geworden, der viele Menschen erschreckt hat ... Er hat alte Ordnungen aufgebrochen, liebgewordene Gewohnheiten hinterfragt. Er hat Unrecht aufgedeckt und großen Wert darauf gelegt, dass wir Gott mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft lieben sollen, so wie er es tat ... Er hat Anstoß erregt mit seiner Konsequenz, mit seiner Radikalität, mit seiner Ablehnung von falschen Kompromissen und allem so Tun als ob.
Der erwachsene Jesus ist vielen Menschen viel ferner als das kleine Kind in der Krippe, dem wir im Krippenspiel Ochs und Esel an die Seite geben ... Darum ist es ein seltsamer Sprung, den ich an diesem Abend wage, vom Kind zum erwachsenen Mann, der predigt: „Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin. Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. Ich aber kenne ihn; denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt.“ – Jesus spricht hier über sich selbst ... Er redet zu Menschen, die ihm folgen, die Zeit mit ihm verbringen ... er redet zu denen, die zufällig dabei stehen: Ihr kennt mich und wisst, woher ich bin. Ihr wisst eine Menge über mich, kennt meine Gewohnheiten, Vorlieben, Herkunft, Beruf, Familie. – Nicht von mir selbst aus bin ich gekommen, es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt ... Da ist noch mehr, als ihr erfassen könnt ... Da ist etwas in mir, was außer mir ist. – Dazu könnt ihr eure Projektionen / Gedanken anstellen, aber es ist nicht verfügbar, es ist viel gewaltiger, majestätischer, gigantischer und beeindruckender als es irgendeiner eurer Gedanken wiedergeben kann ... Es ist Gott selbst ... „Ich aber kenne ihn; denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt“ ... und von genau diesem ist mein Leben und Reden getrieben ... Ich bin gekommen, um euch Gott nahe zu bringen.
Das Kind in der Krippe bleibt nicht das herzige Jesulein. Es schickt sich an diese Welt und uns zu erlösen und zu befreien; und nimmt es dabei noch mit ganz anderen Dingen auf als mit zugefallenen Türen zur Kinderweihnachtswelt ... Der Kummer und der Schmerz, den Menschen – vielleicht gerade an Weihnachten – besonders empfinden, gehört dazu.
„Ich lag in tiefster Todesnacht, du warest meine Sonne, / die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und Wonne. / O Sonne, die das werte Licht des Glaubens in mir zugericht', / wie schön sind deine Strahlen!“ (EG 37,3)
So hat es Paul Gerhard im bekannten Weihnachtslied 1653 gedichtet, als er sich selbst an der Krippe stehen sah ... Paul Gerhard, der den dreißigjährigen Krieg in Deutschland erlebte und dessen Leben ein Leben mit Höhen und Abgründen war. Hier schaut ein sehr erwachsener Mensch in die Krippe ... und schaut durch das Kind in der Krippe hindurch mitten ins Herz Gottes hinein.
„Eins aber, hoff ich, wirst du mir, mein Heiland, nicht versagen: / dass ich dich möge für und für in, bei und an mir tragen. / So lass mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein, dich und all deine Freuden.“ (EG 37,9)
Das gehört in die Münder von Menschen, die wissen, dass sie sterben müssen ... Das gehört in die Münder von Menschen, die schon an Sterbebetten gesessen und an Gräbern von geliebten Menschen standen ... Das gehört in die Münder von Menschen, die wissen, wie zerbrechlich sie sind und wie finster die Nächte der eigenen Seele sein können.
Wer die mittelalterlichen Altäre und Darstellungen von Szenen der Weihnachtsgeschichte genau betrachtet, wird immer wieder ein Krippenkind finden, dessen Züge nicht wirklich die eines Säuglings sind ... so als trüge dieses Christusgesicht schon kurz nach seiner Geburt die Spuren und Furchen des ganzen menschlichen Lebens ... Kein Kind eben nur für die Kinderweihnachtswelt, sondern ein Kind für alle Welt ... Gute Gründe, dass wir uns noch einmal über das Wunder der Weihnacht beugen, wenn die Kinder im Bett sind ... von diesem Kind singen wir an Weihnachten.
Jesus Christus war und ist Gott zum Anfassen. Gott zum Kennenlernen. Erst einmal ein kleines Kind: schwach, schutz- und wärmebedürftig und klein. Gott beginnt klein unter uns und wächst langsam ... macht sich nahbar für andere, ... zeigt sich, ... lässt uns an sich heran ... und obwohl er noch klein und schwach ist, beschenkt er die Menschen bereits: Er gibt den Seelen Wärme und Nahrung ... Das ging damals den Hirten so, den kleinen Gaunern und einfachen Leuten.
„Es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt, den ihr nicht kennt“, sagt Jesus mit den geheimnisvollen Worten des Johannesevangeliums ... Gott will sich uns bekannt machen, will sein Bild tief in uns einprägen ... Wer dies Kind kennt, der kennt Gott und blickt tief in sein Herz ... Er kommt als Kind und nicht als König, er wird im Stall und nicht im Palast geboren. Hirten, einfache Menschen sind die ersten Zeugen.
Weihnachten ist das große Fest der Selbstbekanntmachung Gottes: Seht solch einen Gott haben wir: „er wird ein Kindlein klein, er liegt dort elend, nackt und bloß in einem Krippelein.“ – Wenn ich in diese Krippe hineinschaue, dann kenne ich ihn ... Ein ganzes Menschenleben mit allen Möglichkeiten und allen Chancen, mit allen Gefährdungen und allen Begegnungen, schaut mich an ... Ein Leben, wie mein Leben und dein Leben ... Ein Gott, der mich kennt mit meinen Hoffnungen und Freuden, mit meinen Sorgen und Ängsten ... Ein Gott, der mein Gott sein will in den Höhen und Tiefen des Lebens und ... am Ende auch im Tod.
Gott kommt zur Welt ... In einer Krippe in Bethlehem, so schreibt Lukas, schlägt er die Augen auf. – In dieser Heiligen Nacht bitten wir Gott im Himmel, dass er auch in uns, in den finsteren Nächten unserer eigenen Seele, die Augen aufschlägt, ... dass auch in uns das Christuskind geboren wird und mit ihm Glaube und Hoffnung und Liebe. – Amen.
EG 37, 1.3.9 „Ich steh an deiner Krippen hier“